Gewissheit: Die gefährlichste Illusion in der Führung

„Die eine Sünde, die ich mehr als alle anderen fürchte: Gewissheit.“ 

 

Dieser Satz von Kardinal Lawrence aus Robert Harris’ Conclave hallte lange in mir nach, als ich kürzlich an einem warmen Sommerabend mit Blick auf den sich ständig verändernden Potsdamer Platz in Berlin die Verfilmung dieses Buches sah.

Bis dahin hatte ich Gewissheit nie als Sünde betrachtet. Im Gegenteil: Gewissheit war immer etwas, wonach ich mich gesehnt habe. Nach einem normalen Geschäftsalltag. Nach Menschen, die mit dem, was sie tun, zufrieden sind. Nach der Zuversicht, zu wissen, was als Nächstes kommt.

Doch Harris, der in Cambridge ausgebildete Romanautor, dessen Buch die Grundlage für den Film bildet, fordert uns auf, noch einmal genauer hinzuschauen. In „Conclave“ schreibt er: „Gewissheit ist der große Feind der Einigkeit. Gewissheit ist der Erzfeind der Toleranz.

Das brachte mich zum Nachdenken. War das dieselbe Gewissheit, nach der ich mich sehnte? Der evolutionäre Drang nach Vorhersehbarkeit, der uns einst vor Gefahren schützte? Dieselbe Vorhersehbarkeit, nach der sich so viele Führungskräfte heute sehnen, wenn sie ihre Teams durch turbulente Zeiten führen?

Harris hat Recht Gewissheit trügt. Sie schenkt uns ein falsches Gefühl von Sicherheit, das allzu leicht in Übermut umschlägt. Und Übermut führt selten zu Weisheit – meist ebnet er den Weg ins Scheitern.

Vielleicht ist es also ein Glück, dass es in der heutigen, von gegenseitiger Abhängigkeit geprägten Welt weder Gewissheit noch Vorhersehbarkeit wirklich gibt. –  Wenn es sie überhaupt jemals gab.

Wenn nicht Gewissheit, was dann?

Aber wenn Gewissheit unerreichbar ist, wie können wir dann mit Zuversicht führen? Wie lässt sich die Zukunft unserer Organisationen gestalten, ohne zu wissen, was vor uns liegt?

Die Antwort liegt, so glaube ich, in der Neugier; jenem unermüdlichen Drang, neues Wissen, neue Perspektiven und neues Verständnis zu erlangen.

Neugier erlaubt uns, vermeintlich Vertrautes mit neuen Augen zu betrachten. Sie fördert Toleranz, stiftet Verbundenheit und eröffnet die Fähigkeit, das zu tun, was Rita McGrath, Professorin an der Columbia Business School, so treffend als „um die Ecke sehen“ bezeichnet.

McGrath zeigt uns, dass plötzliche Umbrüche selten wirklich plötzlich kommen. Sie sind die sichtbaren Spitzen langwieriger Entwicklungen – sie nennt sie Wendepunkte –, die die Geschäftswelt allmählich und nachhaltig verändern. Führungskräfte, die mit der richtigen Haltung und den passenden Werkzeugen ausgestattet sind, können lernen, diese leisen Vorboten wahrzunehmen, bevor sie sich zu tektonischen Verschiebungen auswachsen. Mit Neugier, Weitsicht und Agilität lassen sich solche Umbrüche in Wettbewerbsvorteile verwandeln.

 

Raum für Neugier schaffen

Neugier erfordert jedoch Zeit – die knappste Ressource von allen. In der Sprache der adaptiven Führung wird dies als „Balcony Time“ bezeichnet: der bewusste Raum, den Führungskräfte sich nehmen, um Abstand zu gewinnen, ihre Perspektive zu wechseln, zu beobachten und zu lernen.

Doch Balkonzeit bedeutet nicht, dass ein einzelnes Genie in abgeschiedener Stille bahnbrechende Einsichten hervorbringt. Vielmehr geht es darum, die Bedingungen für Kollaboration zu schaffen: Räume, in denen unterschiedliche Blickwinkel zusammenfließen, Menschen für neue Herausforderungen mobilisiert werden und die Kreativität entsteht, die wir brauchen, um die Zukunft zu gestalten.

Kollaboration verstärkt Neugier. Sie fordert Führungskräfte heraus, über die Grenzen ihrer eigenen Organisation hinauszudenken, Experimente zu fördern und ihre Teams zu ermutigen, andere Wege zu gehen. Denn was „um die Ecke“ kommt, ist zunehmend komplex und voneinander abhängig. Eine einzelne Perspektive reicht nicht mehr aus.

 

Die wahre Gefahr

Wenn Gewissheit eine Illusion ist, dann sollten Führungskräfte nicht die Ungewissheit fürchten, sondern Selbstzufriedenheit: jene Gleichgültigkeit und Überheblichkeit, die davon ausgeht, dass das, was uns bis hierher getragen hat, uns auch in Zukunft weiterbringen wird.

Neugier ist das Gegenmittel, Kollaboration ihr Verstärker. Gemeinsam schaffen sie die Voraussetzungen für gesunde, widerstandsfähige Organisationen, die die leisesten Vorboten von Disruption wahrnehmen – lange bevor sie zu unüberhörbarem Lärm anwachsen.

Darum gilt: Führungskräfte müssen Neugier einfordern – von sich selbst, von ihren Teams, von ihren Organisationen. Denn in einer Welt ohne Gewissheit sind es Neugier und Kollaboration, die uns mit den richtigen Werkzeugen ausstatten, um den Herausforderungen der Zukunft mutig und zuversichtlich zu begegnen.

 

Britta Posner

Founder & Director, The Collaboration Practice

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