Unvorbereitet – Europa nach der Münchener Sicherheitskonferenz
- Dr. Martin C. Wolff
- 19. Februar 2025
- BCCG Commentary
Offenkundig wurden die europäischen Vertreter vom Auftreten des US-amerikanischen Vizepräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz überrascht. Sie trafen unvorbereitet auf die neue US-Doktrin. Dem schroffen Auftreten des US-Vizepräsidenten mit starken Worten entgegenzutreten, erzeugt eine gefährliche Selbstvergewisserung: Während die europäischen Medien die Ereignisse maßgeblich transportieren, spielen sie innerhalb der US- amerikanischen Medienlandschaft keine nennenswerte Rolle.
Für Montag, den 17. Februar, wurde kurzfristig ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs Europas einberufen, um die erzwungene Positionierung abzustimmen. Die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens wirken instabil. Die europäischen Nationen und die USA adressieren an Deutschland klare Erwartungen, die Führung zu übernehmen. Der deutsche Regierungschef Olaf Scholz reist als ‚Lame Duck‘ an. Deutliche schriftliche Warnungen über die absehbaren Entwicklungen wurden nach dem 6. November 2024 mit Hinweis auf den Wahlkampf gedeckelt, was auch vorbereitende Planungen betraf. Bekannt sind die Worte des Inspekteurs des Heeres vom 24. Februar 2022: „Das Heer … steht mehr oder weniger blank da.“ Durch die Abgabe von Material an die Ukraine verschlechterte sich die Lage seitdem.

Für Friedensverhandlungen müssen praktische Fragen schnell geklärt werden: Kleine Beobachtermissionen mit geringem Engagement an Menschen und Material werden vor dem Hintergrund des Scheiterns der Minsker Abkommen oder UNIFIL im Libanon abgelehnt. Ohne das erhebliche Engagement einer großen Mission wird die europäische Mitsprache in den Verhandlungen unmöglich. Eine große Mission mit abschreckungs- und verteidigungsfähigen Truppen umfasst bis zu 200.000 Soldaten und würde sofort Fragen zur Einführung einer Wehrpflicht in ganz Europa auslösen. Sie bindet zudem Kräfte, die nicht vorhanden oder verplant sind, beispielsweise die Brigade Litauen.
Fehlende europäische Kapazitäten durch die Vereinten Nationen mit multilateralen Mandaten zu kompensieren, erscheint unrealistisch. Die UN-Abstimmungen der letzten drei Jahre zeigten, welchen Einfluss China und Russland geltend machen. Zusätzlich sind die VN auch von dem Paradigmenwechsel der USA in beispielloser Weise betroffen. Es werden unter Hochdruck politische Grundsatzentscheidungen erzwungen.
Unabhängig von der Positionierung Europas folgen die USA neuen strategischen Linien. Maßnahmenkataloge konservativer Thinktanks wie der Marathon Initiative dienen als Handlungsrahmen: Radikale Fokussierung auf Asien, Reduktion der Priorität der US-Army zugunsten von Fähigkeiten und Kapazitäten im Pazifik, drastische Reduktion von Forschungs- und Rüstungsprojekten, die nicht auf den Pazifik gerichtet sind; sowie absehbarer Abzug von
20.000 amerikanischen Soldaten aus Europa. Diese Linien wirken über die Legislaturperiode hinaus und können nicht innerhalb dieser Dekade wieder eingeführt werden. Europa steht vor der Aufgabe, diese Fähigkeiten und Kapazitäten in Forschung und Rüstung zu kompensieren.
Dr. Martin C. Wolff
Vorstandsvorsitzender, Clausewitz Netzwerk für strategische Studien (CNSS) e.V.