100 Tage Ampelregierung – Holpriger (Fehl-)Start?

Am 07. Dezember 2021 unterschrieben die Parteispitzen von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP den ersten gemeinsamen Koalitionsvertrag. Erstmals kam eine Koalition aus drei Parteien auf der Bundesebene zustande. Mit der Unterzeichnung des Vertrags begann etwas Neues in der Bundespolitik – und wurde so auch selbstbewusst von allen Koalitionspartnern angekündigt. Das Neue machte sich auch bei der Ernennung des Kabinetts bemerkbar: Nur drei Mitglieder des Kabinetts Merkel IV sind auch Teil des Kabinetts Scholz I. Keines davon in bisheriger Funktion.

Im politischen Berlin blieb kaum ein Stein auf dem anderen. In den gut vier Monaten seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrags hat es in der Bundespolitik eine selten gewordene Umwälzung des entscheidenden politischen Personals gegeben. Die Koalitions- und Kabinettsbildung im Dezember 2021 führte im „Trickle-Down“-Effekt dazu das noch eine ganze Reihe weiterer Positionen in Regierung, Parlament und Parteien neu zu besetzen waren. Auf der einen Seite übt die langjährige Regierungsfraktion CDU/CSU ihre neue Rolle als Opposition ein. Auf der anderen Seite sind mit FDP und Bündnis90/Die Grünen langjährige Oppositionsparteien nun in Regierungsverantwortung – mit entsprechendem Personalbedarf. In der SPD sind einige neue und größtenteils junge Gesichter in die Fraktion gekommen. Darüber hinaus haben CDU und Bündnis90/Die Grünen ihre Parteispitzen neu besetzt. Kurz gesagt: Auf den Gängen und in den Büros der politischen Institutionen herrscht weiterhin eine Zeit der (Selbst)findung.

Diese neue Rollenverteilung führt dazu, dass langwierige Entscheidungsprozesse angepasst und neu entwickelt werden müssen. Dies gilt unabhängig davon, ob man auf die Koordination einer 3er-Koalition in Regierung und Parlament oder auf neue Rollen im Parlament blickt. Das im aktuellen Krisenmodus vorherrschende „Trial and Error“-Prinzip sticht dieses Mal besonders heraus, da sich die Parteien während den Koalitionsverhandlungen in einem stark abgesprochenen und koordinierten Verfahren befanden. Dies steht natürlich im Widerspruch zu den aktuellen Entscheidungen, die teils binnen Stunden gefällt werden, wodurch sich der Eindruck nochmal verstärkt, dass die Abläufe zwischen den Partnern noch nicht stimmen.

Angesichts der Corona-Pandemie war sich die neue Regierung von Anfang an bewusst, dass es keine Eingewöhnungsphase geben wird und sie sich direkt im Krisenmodus wiederfindet. Diese Situation hat sich mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine weiter verschärft. Im politischen Betrieb bleibt zwischen der Diskussion um Waffenlieferungen, Bündnistreue und den richtigen Maßnahmen zur weiteren Bekämpfung der COVID-19 Pandemie kaum Zeit für das fokussierte inhaltliche Abarbeiten der im Koalitionsvertrag verabredeten Maßnahmen. Zumindest ist die Kommunikation solcher Arbeit an die Öffentlichkeit besonders herausfordernd.

Schlussendlich zeigten die letzten Entwicklungen, dass jeder Koalitionsvertrag nur eine Momentaufnahme sein kann. Für Politik und Wirtschaft ist er ein wichtiger Referenzrahmen, um sich auf die anstehende Legislaturperiode vorzubereiten, doch wird er (teilweise) von der Realität überholt. Dennoch werden gleichzeitig auch die vereinbarten Vorhaben umgesetzt. Der Vertrag wird somit nicht außer Kraft gesetzt, sondern eher faktisch ergänzt.

Diese Gemengelage aus neuen politischen Akteuren, sich neu findenden politischen Entscheidungsprozessen und einigen wenigen großen politischen Themen verfestigt in der Außenwahrnehmung den Eindruck, dass die Koalition einen mindestens holprigen Start, wenn nicht sogar einen Fehlstart in die Krisen hatte.

Wie geht es weiter mit der Koalition?

Entscheidend werden sicherlich die kommenden Wochen sein. Anfang Mai stehen in zwei CDU-geführten Bundesländern Landtagswahlen an. Kann die CDU beide Bundesländer behaupten und Regierungen bilden, bleibt ihnen über den Bundesrat die Möglichkeit eine politisch wirkmächtige Oppositionsrolle einzunehmen. Gleichzeitig würde sich das Bild verfestigen, dass die Ampelkoalition in Berlin eine Ausnahme bleibt und die neue Parteiführung der CDU begonnen hat, erfolgreich die Partei neu aufzustellen. Gewinnt die SPD Nordrhein-Westfalen und holt in Schleswig-Holstein ein starkes Ergebnis, würde die öffentliche Wahrnehmung vermutlich dahingehend tendieren, dass der Kurs von Bundeskanzler Scholz und der Koalition von den Wählern unterstützt wird.

Darüber hinaus wird sich auch zeigen müssen, inwiefern die Berliner Koalitionäre noch handwerklich zulegen können. Wenn ein Mechanismus gefunden werden sollte, der die anstehenden großen politischen Debatten innerhalb der Koalition zumindest ordnet, bevor sie in die Öffentlichkeit getragen werden, dann könnte sich der Eindruck verfestigen, dass die drei Parteien einen Weg gefunden haben, miteinander zu arbeiten und einander zu vertrauen. Da dies in den Koalitionsverhandlungen – zugegebenermaßen für einen deutlich kürzeren Zeitraum als vier Jahre – schon hervorragend geklappt hat, besteht zumindest die reelle Chance darauf.

Abschließend wird es sich auch daran entscheiden, wie „schnell“ die aktuell vorherrschenden Krisen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden bzw. nicht mehr so intensiv verfolgt werden. Sollte dies passieren, wobei die Akteure hier nur bedingt Einfluss darauf nehmen können, dann könnte die Koalition noch zu der selbst ernannten Transformationskoalition werden. Wenn nicht, dann könnte der holprige Start sich fortsetzen und die Ampel als selbstbewusste und selbsternannte Fortschrittskoalition schon wieder ein Auslaufmodell werden.

 

Robin Arens

Senior Associate, Bernstein Group

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