Diskrepanz zwischen der Gegenwart und der Zukunft

Die derzeitige Lage des Vereinigten Königreiches ist in jeglicher Hinsicht einzigartig. Wirtschaftlich zeichnet sich Großbritannien durch eine signifikante Diskrepanz zwischen der gegenwärtigen und der zukünftig erwarteten Lage aus. Die Märkte scheinen der sechsgrößten Volkswirtschaft der Welt ein Vertrauensvotum ausgesprochen zu haben, auch wegen der Implementierung einer raschen und erfolgreichen Impfstoffkampagne. Doch vorerst müssen die unmittelbaren Barrieren, Zollformalitäten und Meinungsdifferenzen mit der Europäischen Union und China bereinigt werden, bevor der längerfristige Ausblick ins Visier genommen werden kann. Im weiteren Verlauf des Jahres werden die Entwicklung der Inflations- Arbeitslosen- und Sparquoten und die Diskussion rund um die potenzielle – wenn auch relativ unwahrscheinliche – Einführung negativer Zinsen seitens der Bank of England ins Zentrum rücken. Indes wird das Pfund auch weiterhin der beste Echtzeitindikator der internationalen Stimmung gegenüber der Wirtschaftsentwicklung Großbritanniens darstellen, auch wenn die britische Währung aufgrund des Leistungsbilanzdefizites und ihrer zyklischen Natur anfällig für Rücksetzer bleiben wird.

Eine kurze Ruhe von sensationellen Schlagzeilen

Nach einem der ereignisreichsten Jahre des jungen 21. Jahrhunderts ist der Wunsch, den Blick nach vorne zu richten, sicherlich nachvollziehbar. Dies wird für die meisten Unternehmen und Marktteilnehmer kaum möglich sein, zumal Sekundär- und Tertiäreffekte der Coronakrise allesamt die Prognosen für 2021 und 2022 fundamental prägen. Insbesondere die ersten paar Wochen jedes neuen Jahres, in denen Ökonomen die Daten der vergangenen zwölf Monate aufarbeiten und der Öffentlichkeit als sensationelle Schlagzeilen präsentieren, boten einige Gesprächsthemen. Die britische Wirtschaft fiel im vergangenen Jahr in die größte Kontraktion in mehr als 300 Jahren. In der gleichen Periode verzeichnete Großbritannien den größten Exodus von Gastarbeitern seit dem Zweiten Weltkrieg, angeführt durch den Bevölkerungsverlust in London von 700 Tausend Menschen. Im Januar löste die holländische Hauptstadt Amsterdam die britische Finanzmetropole als der wichtigste Börsenhandelsplatz Europas ab. Und mehr als 60 Prozent der britischen Hersteller erfuhren laut jüngsten Umfragen seit dem Austritt Großbritanniens aus der Binnenunion signifikante Störungen beim Handel. Diese vier exemplarischen Entwicklungen können allesamt als eine Funktion des gesundheitlichen COVID-19 Schocks und des Brexits gesehen werden. Und auch wenn beide Faktoren neben den temporären Implikationen auch längerfristige Strukturwechsel mit sich bringen werden, sollte der Höhepunkt der Unsicherheit hinter uns liegen.

Hürden am Pfad der Wirtschaftserholung

Mit der Normalisierung der Handelsbeziehungen Großbritanniens im weiteren Jahresverlauf und der Fortsetzung der globalen Impfstoffkampagne wird der internationale Fokus wieder mehr auf realwirtschaftliche Entwicklungen fallen. Diese Aufmerksamkeitsverlagerung bietet kurzfristig keinen allzu großen Grund zur Freude. Die Arbeitslosenquote steht derzeit auf einem 5-Jahres-Hoch von fünf Prozent, der Stimmungsbarometer der britischen Unternehmensorganisation Confederation of British Industry verweilt weiterhin im negativen Bereich und auch die monatliche Automobilproduktion befindet sich deutlich unter den Vorkrisenniveaus. Die Expansion der britischen Wirtschaft in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres hat im Januar und Februar an Fahrt verloren und wird im ersten Quartal 2020 laut diversen Leit- und Echtzeitindikatoren in eine Kontraktion münden. Dies ist insbesondere auf die im globalen Vergleich starken Restriktion der Bewegungsfreiheit in britischen Metropolen zurückzuführen. Dies drückt hauptsächlich die Stimmung der Konsumenten nach unten. Angesichts der Tatsache, dass der Dienstleistungssektor knapp 80 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, wird die Lockdown-Politik im Zentrum der Diskussionen stehen.

Fortsetzung der lockeren Geldpolitik

Diese trübenden Faktoren könnten den erwarteten Inflationsanstieg im Jahresverlauf dämpfen. Obwohl die staatlichen Hilfsmaßnahmen die Sparquote britischer Haushalte auf ein Allzeithoch im zweiten Quartal 2020 anheben konnten, ist diese in den drei Monaten bis Dezember bereits auf 16,5 Prozent gefallen. Somit notiert die Quote zwar weiterhin über den Vorkrisenniveaus von knapp sechs Prozent. Ein Großteil der erhöhten Ersparnisse ist jedoch auf Haushalte in oberen Einkommensstufen verteilt, welche in der Regel relativ gesehen weniger für den Konsum ausgeben als andere Einkommensschichten. In Verbindung mit der trägen Entwicklung des Arbeitsmarktes könnte die Inflation in den nächsten beiden Jahren in einem für die Bank of England akzeptablen Bereich verweilen und keine Zinsstraffungen provozieren. Eine Zinssenkung in den negativen Bereich wird von den Geldmärkten jedoch ebenfalls nicht eingepreist. Die Fortsetzung der lockeren Geldpolitik ist somit für die absehbare Zukunft zu erwarten.

Licht am Ende des Tunnels

Verlagert man den Fokus der Analyse auf den mittelfristigen Horizont, scheint Raum für dezenten Optimismus zu bestehen. Im Kern basiert die Annahme des überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums Großbritanniens in diesem und nächsten Jahr auf der erfolgreichen Impfstoffkampagne des Landes, gekoppelt mit einer schneller als erwarteten Lockerung der Restriktionen. Nach einem unebenen Auftakt ist es der Regierung durch eine frühe Zulassung und das Impfen von Personen in gezielten Altersgruppen doch noch gelungen sich aus den Tiefen der Krise zu befreien. Nur die Vereinigten Staaten haben bislang mehr Dosen verabreicht als Großbritannien. Diese Entwicklung ist kein Zufall. Das Land weist die zweitgrößte Rate an Influenzageimpften Personen über 65 Jahre weltweit auf, ist in der Liste der Länder mit den meisten COVID-19 Forschungspublikationen auf dem dritten Platz positioniert und weißt laut jüngsten Umfragen die höchste Impfbereitschaft unter den G10 Ländern auf.

Das britische Pfund – Von einem Extrem ins andere

Nirgends kommt dieser Optimismus besser zum Vorschein als beim britischen Pfund. Die Währung konnte sich seit dem Setzen des 35-Jahres-Tiefs am 20. März 2020 um 25 Prozent gegenüber dem Dollar festigen. Ein Großteil der Aufwertung kann natürlich nicht allein durch die positiven heimischen Entwicklungen erklärt werden, zumal die lockere Geldpolitik in den Vereinigten Staaten und die erhöhte globale Risikobereitschaft eine Kapitalrotation in risikoreiche Währungen wie das Pfund induziert haben. Ein Blick auf andere renditereichere Währungen zeigt jedoch, dass nicht alle Valuten von dieser Kapitalrotation profitieren konnten.

Die erwartete Expansion der britischen Konjunktur und der Weltwirtschaft wurde in den letzten zehn Monaten stetig in die Wechselkurse eingepreist. Dies birgt auch Gefahren, zumal die Enttäuschungsgefahr aufgrund von überzogenen Positionierungen an den Märkten hoch erscheint. Sollten sich die noch als temporär betrachteten Brexit-Unsicherheiten in das nächste Jahr ziehen, könnten britische Unternehmen weiter an den bürokratischen Hürden leiden. Aufgrund der zyklischen Natur des britischen Pfunds und des Leistungsbilanzdefizits Großbritanniens bleibt die Währung auf eine Fortsetzung der globalen Risikobereitschaft angewiesen. Ein unerwarteter Abzug der Liquidität in den Vereinigten Staaten durch die US-Notenbank gilt dabei als das größte globale Risiko für die Stabilität der Finanzmärkte.

 

Boris Kovacevic
Makro- und Währungsstratege
Western Union Business Solutions

 

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