Wirtschaftswachstum und Wohlstand durch Steuersenkungen – geht das?

Es gibt Zeiten, in denen sich über Jahre hin nicht viel ändert. Und dann erleben wir Phasen, in denen sich in kurzer Zeit fast alles ändert. Blicken wir nur auf die letzten 30 Tage zurück. Zunächst die Ankündigung der neuen britischen Regierung unter Premierministerin Liz Truss eines über 150-Milliarden Pfund schweren Energierettungspakets, dann die Trauer um die verstorbene Monarchin Queen Elizabeth II, Vollzug der größten Steuersenkungsreform seit 50 Jahren, gefolgt vom Vertrauensentzug der Finanzmärkte und Absturz des Pfund Sterling auf ein historisches Tief, wiederum gefolgt von einer beispiellosen Rettungsmaßnahme der britischen Zentralbank und dem Absturz der Tory-Partei in den Wählerumfragen auf einen historischen 30%-Vorsprung der Labour-Partei. Der erste Monat im Amt hätte für Liz Truss rasanter nicht ausfallen können.

Zugegeben – die durch die Johnson-Regierung hinterlassenen Aufgaben konnten für die neue Premierministerin herausfordernder nicht sein. Die britische Wirtschaft kommt nach dem Doppelschock durch Pandemie und Brexit nicht in die Gänge und gerät nun im Zuge der weltweiten Energiekrise weiter unter Druck. Wachstum und Wohlstand steht für Großbritannien auf dem Spiel. Liz Truss sucht nun verzweifelt die Flucht nach vorne und verspricht Aufschwung durch Wachstumsanreize für die Wirtschaft. Soweit erst einmal plausibel.

Erinnern wir uns kurz daran, wie sich Großbritannien in diese Wachstumskrise herein manövriert hat. Die Zugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt und Zollunion gab der britischen Wirtschaft über 40 Jahre die uneingeschränkte Freiheit des transeuropäischen Warenhandels und des unkomplizierten Zugriffs auf Fachkräfte. Diese Privilegien sind mit dem Vollzug des Brexits im Januar 2021 weggefallen und werden auch nicht wiederkommen. Die britische Behörde für Staatshaushaltsverantwortung (OBR) schätzt, dass der Verlust der EU-Marktprivilegien langfristigen zu 4% weniger Wirtschaftsleistung führt. Handelsabkommen mit anderen eher weit entfernten Volkswirtschaften sorgen allenfalls für politischen Beifall und Wachstum in wirtschaftlichen Nischenbereichen, führen aber nicht zu einem signifikanten Schließen der Brexit-Lücke. Selbst ein weitreichendes Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, dass von der Biden-Regierung nach wie vor geblockt wird, würde die britische Wirtschaft kaum mehr als 1% wachsen lassen. 

Wie kommt die britische Wirtschaft nun aus dem Wachstumsdilemma? Nach Ansicht des neuen britischen Schatzkanzlers Kwasi Kwarteng liegt der Weg zu mehr Wirtschaftswachstum in weniger staatlicher Bürokratie und weniger Steuerlast für Bürger und Unternehmen. In seiner ersten Amtshandlung als neuer Schatzkanzler hatte Kwarteng sogleich auch ein Feuerwerk an Steuersenkungen angekündigt: Der Unternehmenssteuersatz bleibt bei 19% und wird nicht wie geplant auf 25% erhöht, die 1%-Erhöhung der Sozialversicherung wird wieder zurückgenommen, mittlere Einkommen werden künftig auch nur noch mit 19% Einkommensteuer belastet anstatt 20%, keine Deckelbesteuerung mehr für Bankerboni, Senkung der Dividendenbesteuerung, großzügige Befreiungen bei der Grunderwerbsteuer und die Schaffung von bis zu 100 Investmentzonen im UK, in der kaum noch Steuern erhoben werden sollen. Obwohl die auch versprochene Senkung des Einkommensteuerspitzensteuersatzes von 45% auf 40% wenige Tage später wieder zurückgenommen wurde, stellen diese Pläne in der Summe nicht weniger als die größte Steuersenkungsmaßnahme der letzten 50 Jahre dar.

Die Bewunderung für den Mut und Entschlossenheit dieser Maßnahmen hielt aber nur so lange an, bis die Frage aufkam, wie dieses historische Steuersenkungspaket finanziert wird. Konsultationen mit der britischen Zentralbank oder dem OBR, wie sie gewöhnlicherweise vor fiskalpolitischen Maßnahmen stattfinden, blieben dieses Mal aus. Und so folgte dem Steuersenkungsfeuerwerk eine Lawine der Entrüstung über finanzpolitische Verantwortungslosigkeit. Die Finanzmärkte reagierten scharf auf die nicht gegenfinanzierten Steuerpläne und ließen das Pfund Sterling kurzzeitig auf ein historisches Tief gegenüber dem US-Dollar stürzen. Erst die Ankündigung der britischen Zentralbank, britische Staatsanleihen im Wert von 65 Milliarden Pfund Sterling aufzukaufen, könnte die Nervosität bändigen. Der politische Schaden aber bleibt und macht den Start für Truss‘ neue Regierung nicht leichter. Die Lehre aus dieser Maßnahme ist, dass sich selbst die kühnsten Verfechter der „Britannia Unchained“-Bewegung der Gravitation finanzpolitischer Entscheidungsprozesse nicht entziehen können.

Die Brexit-Dividende liegt sicherlich in der Unabhängigkeit, Großbritanniens eigene Wege in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gehen zu können, und damit jetzt auch in den Wettbewerb gegenüber der EU als Investitionsstandort zu stehen. Der Erfolg wird allerdings vom Vertrauen der Wirtschaft, der Finanzmärkte und internationaler Investoren abhängen. Die britische Regierung bewegt sich hier auf einem schmalen Grat, wirtschaftliche Anreize durch Fiskalpolitik zu erreichen und dabei gleichzeitig solide Haushaltspolitik einzuhalten. Nach Pandemie und Brexit wird der Weg für mehr Wachstum und Wohlstand für die Briten länger dauern als befürchtet und daran werden auch Steuersenkungen zunächst nicht viel ändern.

 

Alexander Altmann

Partner, Blick Rothenberg

SHARE THIS